Die vergangene Woche war aufgrund verschiedener Umstände schwierig und schön. Ich fühle mich emotional ausgelaugt und erfüllt. Manchmal liege ich abends im Bett und lasse den Tag Revue passieren und überlege, wovon ich wohl im Blog berichten möchte. Heute kam mir der Gedanke, dass ich zwar „größere“ Events durchaus immer schriftlich festhalte, aber meine Familie und Freunde gar nicht mit meiner Alltagsroutine vertraut sind. Mitunter frage ich, welche Art Bild ich eigentlich vermittle – haben die Leute den Eindruck, ich chille den ganzen Tag in der Sonne, genieße das Leben hier als vergleichsweise reicher Europäer und helfe den Kids nebenbei bei den Hausaufgaben? Komme ich als Erzieher rüber oder als Ersatz-Papa? Die Wahrheit ist, dass ich momentan fünf Mal die Woche knappen einen 15-Stunden-Tag habe, der um 5 Uhr in der Frühe beginnt und um 20:30 Uhr endet. Um 21:00 Uhr falle ich dann todmüde ins Bett. Samstags habe ich kein College, aber die Kids haben frei und wir volunteers sind den ganzen Tag gefordert. Nur der Sonntag ist etwas entspannter, da ich ebenfalls kein College habe und mehr Freizeit, da die Kids einen regulären Schultag haben.
Der Wecker klingelt um kurz nach fünf
Natürlich stellt sich der Körper auf den neuen Tagesrhythmus ein. Das bedeutet aber nicht, dass ich morgens freudig aus dem Bett springe, wenn der Wecker klingelt. Oft bin ich schon ein wenig wach, weil Rajeshs normalerweise schon vor fünf Uhr aufsteht, um zu lernen, und irgendwie ist meine innere Uhr inzwischen auch darauf getrimmt, dass ich zu dieser frühen Stunde wach werde. Draußen ist es noch relativ dunkel, aber es vergehen keine zwanzig Minuten, da bricht der Tag schon an. Viel gemacht wird nicht: Mundspülung, Klamotten überziehen, Sachen packen, rüber ins andere Haus trotten. Manchmal sitzen ein paar der Großen schon auf ihren Plätzen, manchmal warte ich ein paar Minuten. Janak, Ramila und ich gehen hoch in den ehemaligen TV room und machen Mini-Seminar, dann geht es runter zur study time. Ich sitze hinten bei Navaraj, Janak, Subash, Ashok, Sudeep, Umesh und J.P. – die Hilfe fällt unterschiedlich aus. Janak und Subash brauchen viel Hilfe in Englisch, Navaraj eigentlich in jedem Fach, Ashok eigentlich gar keine, aber auch trägt manche Vokabularfragen an mich heran und freut sich über Hilfe bei Aufsätzen. Es kommt auch vor, dass keiner Hilfe braucht und ich einfach stillschweigend danebensitze und quasi Bereitschaftsdienst habe. Die study time endet nach zwei Stunden gegen halb acht. Während sich die Kids für die Schule bereit machen, gehe ich zurück ins neue Haus. Es ist Zeit für die exercises, die in den vergangenen Monaten einen ziemlich drastischen Wandel erlebt haben: Statt Kinderlieder gibt es nun erst einmal leichte Stretchübungen und Einsingen, anschließend Zumba-Tänze und Brain Breaks Action Songs (anbei zwei Beispiele, wobei es gut möglich ist, dass die Videos in Deutschland gesperrt sind). Wir sind inzwischen viel zu viele volunteers, alle können beim Frühsport gar nicht mitmachen, daher helfen alle, die nicht eingeteilt sind, bei der Essensaufgabe mit.
Die Tänze haben es übrigens in sich: Wir Praktikanten wechseln vorher bewusst in Sportklamotten, weil wir so schnell durchgeschwitzt sind.
„Freizeit“
Wenn die Kinder kurz nach dem Dal Bhat zur Schule aufbrechen, haben die volunteers Freizeit bis nachmittags. Für mich beginnt allerdings nur ein weiterer Abschnitt in meinem arbeitsreichen Tag. Ich ziehe mich zurück ins Zimmer und erledige meine Übersetzungsarbeiten, die mich hier finanziell über Wasser halten, meist habe ich an die zwei bis zweieinhalb Stunden Zeit dafür. Rajesh bricht gegen 11 Uhr zum College auf, und da mein Campus auf dem Weg liegt, kann er mich mitnehmen. Der Verkehr zu dieser Uhrzeit ist noch unberechenbarer als sonst – meist umfahren wir die Hauptstraßen, aber selbst in den Nebenstraßen herrscht teilweise Chaos. Erst vorgestern hat die Verkehrspolizei wieder einmal großartige Arbeit geleistet und den Verkehr auf für uns Europäer undenkbare Weise geleitet. So hatte eine (von vier) Spuren ganze fünfzehn Minuten Fahrzeit, ehe die nächste dran war.
Mein Unterricht beginnt um 12:00 Uhr, meist habe ich also noch eine halbe Stunde. In der Umgebung habe ich inzwischen ein paar Lieblingslokale entdeckt, so einen kleinen Tante-Emma-Laden mit Gebäck, wo ich mir einen kleinen Donut und einen Tee gönne, oder ich gehe ein paar Schritte weiter ins 3 Brothers und hole mir eine chicken kati roll, ungesäuertes Fladenbrot mit einer pikanten Hühnchenfüllung. Dazu natürlich eine Flasche Slice, eine fruchtige, nicht zu süße Mango-Limo von PepsiCo, die es in Deutschland leider nicht gibt.
Dr. Pandey ist immer sehr pünktlich und hat inzwischen sogar gelernt, uns rechtzeitig per SMS Bescheid zu geben, wenn er es aus irgendwelchen Gründen nicht zum Unterricht schafft („Problem on leg. No Class today.“ Oder „Today I am absent. So no class.“). Joshua und ich haben inzwischen unseren Standard-nerd-Platz in der Bankreihe vorne rechts; wir haben auch festgestellt, dass die Klasse ziemlich geschrumpft ist. Anfangs waren wir noch knapp 30, inzwischen erscheint nicht einmal mehr die Hälfte regelmäßig zum Unterricht. Leider geben die Hardcore-Koreaner, die ohnehin schon Nepali sprechen, nicht auf.
Gewiss gibt es in Deutschland ebenfalls zweifelhafte Lehrer, und ich versuche auch gar nicht, meine Ansprüche zu krass hochzuschreiben. Dennoch muss ich sagen, dass Dr. Pandeys Unterricht ziemlich grottig ist. Er ist auf jeden Fall sehr freundlich und bemüht und hat auch Spaß am Unterrichten, ansonsten ist er aber völlig unstrukturiert, erklärt wenig und zieht einerseits den Stoff knallhart durch, hängt sich andererseits mit viel zu vielen unnötigen Wiederholungen von Kapiteln auf, die wir inzwischen offensichtlich beherrschen. Das frustet natürlich ein bisschen. Vor zwei Tagen hat er ein paar neue Adjektive eingeführt und vielleicht fünf Minuten erklärt, wie man sie verwendet, ehe wir dann – zum zwanzigsten Mal – alle Zahlen von 1 bis 50 aufschreiben mussten. Inzwischen habe ich sogar ein zweites Heft angelegt, in das ich Vokabeln und Grammatikregeln schreibe, damit ich eine einigermaßen vernünftige Übersicht habe.
Ohne die Kids wäre ich wohl verloren. Aber Tag für Tag helfen sie mir geduldig und begeistert bei den Hausaufgaben und üben mit mir das Lesen. Und es trägt Früchte: Was das Schreiben angeht, bin ich inzwischen relativ sicher. Mein Lesen festigt sich ebenfalls. In den Büchern der Kids verstehe ich natürlich noch nichts, aber ich weiß zumindest, wie ich die Worte auszusprechen habe. Fehlerfrei zweifelsohne nicht, aber ich werde besser. In unserem Arbeitsbuch erschließen sich mir inzwischen auch viele Sätze von selbst und ich verstehe deren Bedeutung, ohne nachfragen zu müssen:
नेपालमा हिमालहरू धेरै छन्। (nepalma himalharu dherai chhan: Nepal-in Berge viele sind > In Nepal gibt es viele Berge)
म धरमा छैनँ। (ma gharma chhaina: ich Haus-in nicht bin > Ich bin nicht zu Hause)
हाम्र साथीहरू धेरै छन् । (hamra sathiharu dherai chhan: Unser Freunde viele sind > Wir haben viele Freunde)
Wenn Nepalesen sprechen, verstehe ich noch nichts. Das wird auch noch etliche Monate dauern, bis ich da etwas verstehe. Aber ich freue mich über die ersten Fortschritte nach anderthalb Monaten Unterricht, über meine vielen willigen Nachhilfelehrer und dass sich mir das Schriftbild immer besser erschließt. Es ist schon ein cooles Gefühl, durch die Stadt zu laufen und nicht nur schöne Zeichen zu sehen, sondern Laute zu erkennen, teilweise Begriffe. Und so schwierig und fremdartig das Schriftbild doch ist, so ist die Grammatik an sich gar nicht so kompliziert und relativ übersichtlich. Muss halt alles nur gelernt werden.
Nachmittag und Abend
Der Unterricht endet normalerweise zwischen 13:00 Uhr und 13:30 Uhr, je nach Lust und Laune des Lehrers. Es ist erstaunlich, wie streng er die Anwesenheit notiert und unsere Hausaufgaben abhakt, alles andere sieht er eher locker – aber, muss man halt auch dazusagen, er ist eben ein Beamter und Regierungsangestellter. Seine Anstellung ist ihm sicher, er verdient sicher auch nicht schlecht, und eigentlich können wir uns glücklich schätzen, dass unsere Leistung ihm nicht völlig am Hintern vorbeigeht, denn grundsätzlich habe ich durchaus den Eindruck, dass er gern unterrichtet und die Klasse als angenehm empfindet.
Die Rückfahrt mit dem Micro ist von Tag zu Tag verschieden. Meist habe ich Glück und muss nicht lange warten, ich habe aber auch schon zwanzig Minuten an der der Haltestelle gestanden. Je nach Verkehrslage dauert die Fahrt 20 Minuten (wenn wir extrem gut durchkommen) oder eine Dreiviertelstunde (wenn mal wieder irgendwelche Straßen aus unerfindlichen Gründen gesperrt sind oder es Aufmärsche irgendwo in der Stadt gibt o. Ä.). Daheim ziehe ich mich nur kurz um, laufe runter in den TV room und mache Sport, zu dem sich inzwischen Glenn, Robert und Anton ebenfalls gesellen. Ich habe noch ungefähr eine Stunde, bis die Kinder aus der Schule zurückkommen, und fülle diese entweder mit eigenen Hausaufgaben oder arbeite noch ein bisschen. Geduscht werden muss ja auch noch.
Da morgens eher wiederholt wird, ist die study time am Nachmittag weitaus anstrengender. Hier werden wir wirklich gefordert und springen von Kind zu Kind – mal sind es Abschreibarbeiten, bei denen wir die Richtung weisen müssen, mal etwas aufwändigere Textaufgaben, mal Grammatikübungen, mal Projektarbeiten. Mathe lasse ich Anton übernehmen, der sich damit gut auskennt, Sassi war unser Genie für Science, aber leider (!) sind ihre drei Monate um und wir vermissen sie schmerzlich. Gegen 18 Uhr wird zusammengepackt und die abendlichen exercises warten auf uns (wobei momentan kaum einer morgens und abends dran ist und auch mal einen Tag Pause hat). Bei denen machen die Kids auch weitaus agiler mit als am Morgen, wo sie noch etwas müde sind. Je nach Mittagssnack habe ich inzwischen auch richtig Kohldampf und freue mich auf das Abendessen. Die Kleinen haben Glück, sie gehen nämlich direkt im Anschluss ins Bett (und die Praktikanten, die mit den Kleinen lernen, teilen dieses Glück). Ich gehe ein weiteres Mal ins alte Haus, stelle mit den Großen die Hausaufgaben fertig oder helfe sonstwie beim Lernen, ehe ich dann gegen halb neun mit den großen Jungs noch mal hoch in die Schlafzimmer gehe, ihnen eine gute Nacht wünsche, ins neue Haus rübergehe und mir eine halbe Stunde Ruhezeit gönne, bei der mir aber meist schon die Augen zufallen.
Klingt stressig? Es geht. Eigentlich empfinde ich gar nicht so viel Stress, aber der Tag ist durchaus anstrengend und vor allem lang. Aber er trübt nicht die wahnsinnige Freude, ich hier empfinde, auch wenn es Frustmomente gibt, die aber im Vergleich nur selten vorkommen. Welches Bild ihr also auch immer von meinem Tagesablauf hattet, vielleicht konnte ich euch ein paar neue Einblicke gewähren.
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Nicole, the greatest cousin ever! (Freitag, 02 September 2016 13:51)
I am so grateful for Google translate. You so selfishly write this blog in German, but at least I know how you are! I had to laugh when you said you sit in the front row in your nerd spot. (At least that's what google said) I just started my classes at the University on Monday, and I sit in the front, too!! Hey, guess what? Andrew and I are coming to Germany at the end of April, so if you are planning to visit, you should plan it then! We don't know dates for sure, but I will let you know. It sounds so much like those kids need you and love you! My heart is so happy for them and for you.
Eva (Montag, 05 September 2016 22:26)
Klingt mächtig vollgepackt, dein Tag, aber auch durchaus erfüllend! Respekt, wie du das alles packst!!!, und schön, dass trotz der Anstrengung, die das sicher bereitet, für dich die Freude überwiegt!! Schön, wie du uns immer wieder Anteil nehmen lässt -- ich weiß seit einiger Zeit tatsächlich ein bisschen über das Leben in Nepal, und das verdanke ich allein deinen Schilderungen!!! Da ich selbst vermutlich nie werde dorthin reisen können, ist es umso schöner, zumindest gedanklich ein wenig "miterleben" zu dürfen von deinem Alltag dort!! Viele liebe Grüße und hugs, Eva