Es geht emsiger zu als bei jeder detailliert geplanten FHV-Aktivität: Die Kleinen schlummern bereits friedlich im Zelt, alle anderen sind auf dem Hof beschäftigt, und für jeden gibt es eine Aufgabe: Tüten auffriemeln, Tüten aufhalten, Sack aufschlitzen, Linsen oder Reisflocken oder Zucker in die Tüten reinschütten, Tüten abnehmen und aufstellen, Tüten zählen, Verpackungen der Stirnlampen öffnen, Lampen aufmachen, Batterien reinlegen, Lampen wieder zu, Licht testen, Schaumstoffmatten aufrollen … die Liste ist fast endlos. Es ist ein munteres Gezwitschere, alle haben gute Laune, auch wenn es sehr hektisch zugeht, immerhin ist es schon dunkel und relativ spät und der morgige Tag beginnt sogar noch früher als sonst.
Es geht nach Nuwakot Hung, einem kleinen Dorf in den Bergen, das vom Erdbeben komplett zerstört wurde. Es handelt sich um das Heimatdorf eines ehemaligen Leiters der Einrichtung, weshalb der Kontakt hergestellt werden konnte. Dank der großzügigen Spenden aus der Heimat ist es dem Verein nicht nur möglich, die Kinder mit allem zu versorgen, sondern wir haben so viel Überschuss, dass wir anderen ebenfalls unter die Arme greifen können. Besonders gefällt mir, wie die Kids selbst in die Aktion einbezogen werden, also nicht nur stille Beobachter sind, sondern aktiv mithelfen. Selbst bei den Einkäufen sind welche dabei. Und dies ist nur die erste Aktion von ein paar, die für die kommenden Tage geplant sind.
Der gemietete Schulbus soll um 5 Uhr bereit stehen. „5 Uhr nepalesische Zeit“, weist Navaraj uns hin – wir müssen also um 5 Uhr bereit sein, aber es ist durchaus möglich, dass der Bus erst eine oder zwei Stunden später eintreffen wird. Um so überraschter sind wir, dass er morgens fast auf die Minute pünktlich erscheint. Die Kleinen sind erst in der Aufwachphase, die Großen bereits alle auf den Beinen. Da der Bus auf keinen Fall die enge und steile Gasse zum Haus hochfahren kann, müssen nun alle abgepackten Hilfsgüter den Hügel runtergetragen werden – eine mühselige Arbeit, insbesondere das letzte Stücke, wo es ziemlich steil bergab geht, und der Weg muss schließlich auch wieder hochgelaufen werden. Dennoch bewältigen wir das morgendliche Workout in kurzer Zeit. Es erfolgt ein kurzes Frühstück, ehe sich alle Mitfahrer bereit machen: Nabin, Navarajs Bruder, leitet die Aktion. Als volunteers begleiten Gwen, Lukas und ich den Bus, außerdem dabei sind drei Mädels aus den Apartments, acht unserer Kids aus der 9. und 10. Klasse, der Mann unserer Küchen-didi und Srijana, die jüngere Schwester von Navaraj und Nabin. Wir gabeln noch besagten ehemaligen Heimleiter auf, und die Buscrew beträgt 3 – also eine ordentliche Truppe.
Die Fahrt ist geprägt von gemischten Gefühlen. Einerseits tut es tatsächlich gut, einfach mal aus Kathmandu rauszukommen. Die Landschaft, die uns erwartet, ist so sagenhaft, dass man sie gar nicht adäquat beschreiben geschweige denn per Handy-Foto festhalten kann: grünes Gebirge, so weit das Auge reicht; auf Terrassen angelegte Felder, die Hunderte Meter nach oben reichen; Reisfelder in dem sattesten Grün, das ich jemals gesehen habe; rotbraune Palmenareale mit kleinen grünen Tümpeln; riesige Hängebrücken, die über die Flüsse gespannt worden sind; Bananenstauden und Maisfelder. Die Busfahrt über die serpentinenartigen Straßen ist teilweiser purer Nervenkitzel, besonders wenn man auf der Abhangseite aus dem Fenster in den steilen Abgrund blickt, aber schon in Kathmandu ist mir aufgefallen, mit welch gelassener Souveränität die hiesigen Autofahrer enge Gassen meistern, ohne dass der Wagen irgendwo anschrammt. Einer aus der Buscrew steht außerdem die ganze Zeit an der offenen Tür und gibt dem Fahrer Zeichen, wenn er ein wenig zu eng am Hang fährt.
Andererseits sehe ich zum ersten Mal mit eigenen Augen das, was die Medien seit Wochen berichten. Schon am Stadtrand von Kathmandu ist die Zerstörung enorm, aber kaum haben wir die Stadt verlassen und ein paar kleinere, noch relativ intakte Städtchen durchquert, breitet sich der Schrecken immer mehr aus. Jedes Dorf, das wir passieren, ist dem Erdboden gleichgemacht – also ab und an gibt es noch ein stabileres Haus, das ganz oder zumindest teilweise noch steht, der Rest ist völlig zerstört. Der Schutt befindet sich teilweise auf der Straße und erschwert die Durchfahrt. Hier und da wird wieder aufgebaut, ansonsten gehen die Einwohner ihrem Alltag nach und sitzen vor ihren Shops, holen Wasser oder waschen sich am Dorfbrunnen oder sitzen im Freien herum und beäugen neugierig den großen Bus, der an ihnen vorbeidüst. Immerhin wirken die Felder allesamt unversehrt, was ja für viele die Lebensgrundlage ist – aber diejenigen ohne Land haben wirklich buchstäblich allen Besitztum verloren.
Nachdem wir die geteerte Straße verlassen, geht der Spaß erst richtig los. Teilweise fahren wir immer noch am Hang, aber nun über äußerst holprige Sandwege. Wenn uns andere Wagen entgegenkommen, erfolgen aufwändige Manöver, damit man aneinander vorbeikommt, denn für zwei Fahrzeuge nebeneinander ist kein Platz auf dem schmalen Weg. Außerdem gesellen sich vier uniformierte Polizisten zu uns – zuerst denken wir volunteers, dass wir die einfach einen Teil der Strecke mitnehmen, ehe wir schließlich erfahren, dass sie uns zu unserem Schutz begleiten, damit es zu keinen Überfällen kommt. Immerhin haben wir hier einen Bus voller Lebensmittel. Wie gefährlich das wirklich werden könnte, kann ich nicht sagen – bei der Freundlichkeit und Höflichkeit der nepalesischen Mentalität fällt mir die Vorstellung sogar schwer, es könne tatsächlich etwas passieren, aber der Hunger kann auch zahme Menschen zu Bestien machen, und ganz gleich wie grundsätzlich freundlich das Volk ist: Kriminalität gibt es nun einmal leider überall.
Die Fahrt beträgt knappe sechs Stunden, wobei wir eine längere Frühstückspause eingelegt haben – insofern waren die fünf geplanten Stunden gut eingeschätzt. Unser Ziel ist ein kleiner Geröllparkplatz an einem Fluss, der durch eine Hängebrücke mit einem Dorf verbunden ist. Ich wundere mich zunächst, denn die Gebäude, die ich erkennen kann, sehen eigentlich relativ gut aus – aber ich erfahre, dass die Menschentraube, die uns erwartet, gar nicht von dort stammt. Nuwakot Hung ist ein Bergdorf, das mit dem Auto gar nicht zugänglich ist – diese Menschen sind drei Stunden hergewandert und so zum vereinbarten Treffpunkt gekommen. Es bedeutet auch, dass sie die Säcke voller Lebensmittel und Schaumstoffmatten alle wieder ins Gebirge hochtragen müssen.
Die Ausgabe erfolgt sehr diszipliniert und gesittet. Es gibt eine Liste der Familiennamen, damit sichergestellt wird, dass alle Betroffenen versorgt werden und die Güter auch gerecht verteilt werden. Nacheinander kommen sie nach vorne, holen sich Essen ab und eine Stirnlampe mit Reservebatterien. Die Polizisten passen mir fast schon zu genau auf, dass sich niemand dem Haufen Lebensmitteln zu sehr nähert, aber wie gesagt – ich kann nicht beurteilen, wie es ohne unseren polizeilichen Schutz ablaufen würde. Die Dorfbewohner sind freundlich und bedanken sich, jedoch auch relativ reserviert. So liebenswert die Nepalesen mir in der Regel begegnen, manchmal nervt mich die weiße Hautfarbe, denn ich kann mir gut vorstellen, wie die ein oder andere Familie denkt: „Ach ja, der reiche Weiße steigt herab von seinem Ross und wirft uns ein paar seiner Brotkrumen zu.“ An sich ist die Atmosphäre aber entspannt und Nabin managt das alles auch hervorragend. Irgendwann beklagt sich ein älterer Herr, der nicht aus Hung kommt und für den kein Hilfspaket vorgesehen ist, wie unfair es ist, dass er nichts abbekommt. Und er hat ja recht – es ist unfair. Aber die ganze Situation ist unfair, und so hart und ungerecht es klingt, darauf kann keine Rücksicht genommen werden. Wir können nur hoffen, dass noch mehr Hilfsgüter eintreffen oder dass die Einwohner hier aus der Region miteinander teilen. Nur können wir nicht einfach von den Lebensmitteln einer Familie etwas wegnehmen, während eine andere den vollständigen Satz bekommt, oder spontan umverteilen. Es belastet mich, dass manche leer ausgehen müssen, aber ich muss mich auch auf das Positive konzentrieren: Einige haben Hilfe bekommen. Das muss fürs Erste zählen.
Nachdem das meiste verteilt ist, können wir uns ein bisschen ausruhen. Ein paar weitere Familien sollen noch eintreffen, ein paar, die ihre Güter erhalten haben, brechen auf. Eine Mutter schnallt sich das Trageband für den Reissack um die Stirn, auf die Schultern kommt noch ihr kleiner Sohn. Drei Stunden hoch ins Gebirge, denke ich nur …
Lukas, Gwen und ich gehen mit Sujan und Ramesh runter an den Fluss und erfrischen uns. Am liebsten würden wir reinspringen, denn die heiße Mittagssonne macht uns allen zu schaffen, aber es hilft
schon, sich mit den Füßen und Waden ins kalte Nass zu wagen (oder mit dem halben Unterkörper, denn Sujan schubst mich aus Spaß, aber leider rutsche ich auf dem glitschigen Stein aus und
versinke). Wir legen uns auf die großen Felsen im Fluss und braten ein bisschen vor uns hin, ehe wir zum nächsten Felsen springen. Wir volunteers achten aber darauf, in
Ufernähe zu bleiben, denn die Strömung ist stark und die Jungs können nicht schwimmen. Auch die Mädchen haben ihren Spaß am und im Wasser, und Nabins Schwester schießt in einem verrosteten
Eisenkäfig Selfies, was bei uns, nun ja, eher Belustigung hervorruft.
Auf dem Rückweg nehmen wir eine andere Strecke – eine Abkürzung, wie uns mitgeteilt wird. Die Sandstraße ist so uneben, dass wir etwa zwei Stunden lang das Gefühl haben, uns in einem Dauererdbeben zu befinden. Glücklicherweise führt sie größtenteils eher über ebene Strecken, die Straße am Hang ist dann etwas besser, aber trotzdem ist die Fahrt mühsam, der Hintern fühlt sich wund an, hinzu kommt die konstante Hitze in einem nicht klimatisierten Bus. Aber ich sollte mich nicht beklagen – ab und an kommen Reisebusse an uns vorbei, in denen die Menschen so wie in den Microbussen sardinenartig aneinandergepresst sind, und das teilweise bis zu 14 oder 16 Stunden. Wir haben relativ viel Platz und Beinfreiheit, aber trotzdem freue ich mich, als schließlich das Kathmandutal in Sicht ist und wir sogar schnell das Horizon entdecken, das ja nun von der Größe her aus der Masse heraussticht und uns wissen lässt, dass die Reise bald geschafft ist.
Ein sehr anstrengender, aber lohnender Tag neigt sich dem Ende zu. Es tut gut, anzupacken und zu helfen, und es tut gut, dies gemeinsam zu tun, und von dem abzugeben, was man im Überfluss hat. Ich falle todmüde ins Bett, aber die Gewissheit, einen guten und ergiebigen Tag gehabt zu haben, lässt mich in Sekundenschnelle einschlafen …
P.S. In meinem letzten Beitrag habe ich ja von einigen zwischenmenschlichen Problemen berichtet. Die heutige Aktion ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie man gegen solche Probleme angehen kann. Denn wenn man versucht, gemeinsam etwas zu erarbeiten, verschwinden ungute Gefühle fast automatisch. Auch bemühen wir uns, generell positiver zu sein – mit den Apartment-Jungs positiv über Navarajs Familie zu sprechen und umgekehrt. Allen das Gefühl zu geben, dass sie auf unsere Hilfe bauen können, aber auch selbst anpacken, ohne dass man uns um etwas bitten muss. Auf diese Weise haben wir das Gefühl, dass die Lage inzwischen weniger angespannt ist und sich alle darauf konzentrieren, einander zu helfen.
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Cordel (Samstag, 23 Mai 2015 15:01)
Benny, wenn ich könnte, dann würde ich dir und mir einen Supermannumhang umlegen, das Batmobil schnappen und die Welt retten!