Am 14. April beginnt das nepalesische Neujahr. Bei 2072 sind sie hier schon. Von irgendwelchen Feierlichkeiten bekommt man allerdings nicht viel mit, also mit dem Neujahr der westlichen Welt eigentlich nicht zu vergleichen. Ab und zu gibt es wohl mal Tischfeuerwerk, allerdings auch nicht um Mitternacht, und überhaupt bleiben wenige bis Mitternacht auf, denn das ist für die Nepalesen ja schon buchstäblich in der Mitte ihres wohlverdienten Schlafes. Wir Männer gehen am 13.4. abends rüber zu dem Apartment der großen Jungs – die Dhapasi-„Abgänger“, die zwar auch weiterhin mitgesponsert werden, aber eben nun auf eigenen Beinen stehen. Sprich, sie bekommen zwar Geld, müssen aber lernen, selbst damit umzugehen. Es gibt niemanden mehr, der ihnen alle Mahlzeiten vor die Nase setzt. Ajaya wird am Neujahrstag zarte 19 und hat eine Torte besorgt, ansonsten haben sie ein wenig Fingerfood vorbereitet und zeigen uns sogar, wie man Fleisch kocht. (Eigentlich wollte ich in Nepal ja komplett vegetarisch leben, aber ich muss sagen, die bereiten ihr Fleisch schon echt lecker zu. Ist halt noch alles dran an Knochen und Knorpeln. Und vom Metzger würde ich mir nicht unbedingt was holen.) Besonders faszinieren mich die Gespräche mit den gerade mal 18- und 19-jährigen, die in vielerlei Hinsicht viel reifer und älter wirken als so etliche ihrer Altersgenossen in Deutschland. Vielleicht liegt es daran, dass sie vom Leben bereits früh eine andere Perspektive entwickelt haben. Und sich bewusst sind, dass das Leben Freude machen soll, aber es eben keine Mami und keinen Papi gibt, die sich um alles kümmern. Sie machen sich ernsthaft Gedanken um ihre schulische Bildung und wie sie ihr Leben gestalten wollen. Zum einen bewundere ich die Einstellung zutiefst, zum anderen bedaure ich, dass es so harte Umstände sein müssen, die ihnen früh dafür die Augen geöffnet haben, wie hart das Leben sein kann.
Am Neujahrstag fahren die Mädels zu einem Festival in einer benachbarte Stadt. Ich will eigentlich in die Gemeinde, weil dort eine Aktivität stattfindet, bei der der Film „Meet the Mormons“ gezeigt wird – immerhin hab ich das Skript ins Deutsche übersetzt, und nicht nur das: Eines der Segmente ist ja über einen Nepalesen, Bishnu, den ich inzwischen auch kennengelernt habe. Da ich jedoch spät im Bett war und der früh ganz gewöhnlich um 5:30 Uhr beginnt, verpenne ich das Ganze leider. Lukas, Leo und ich fahren nach Thamel und wollen dort Mittag essen – die Auswahl fällt nicht leicht. Es gibt eine köstliche Konditorei namens „Third Eye“ und wir nehmen im dazugehörigen Restaurant Platz, was sich leider als Reinfall entpuppt. Na ja, können ja nicht alle Lokale gut sein … Wir hätten aber auch einfach auf die Internetbewertungen schauen können, wo unter anderem steht: „Mein schrecklichstes Erlebnis in Nepal.“
Noch ein paar Takte zum Essen: So langsam lerne ich auch immer mehr lokale Spezialitäten kennen. Wenn wir (meistens eher mal mittags) in Thamel essen gehen, gibt es gar nicht so viel „Neues“ in dem Sinne zu entdecken, denn die meisten Restaurants zielen ja eher darauf ab, den Touristen etwas zu bieten, was nicht völlig fremdartig ist. Trotzdem bin ich jetzt schon wehmütig, wenn ich irgendwann nicht mehr den unvergleichlichen Mushroom Burger oder das exquisite Salatdressing vom OR2K bekomme oder das herrlich saftige Bananenbrot von der Bäckerei „Pumpernickel“. Ich liebe aber auch die nepalesischen Teigwaren, die man bei unzähligen kleinen Ständen überall in der Stadt bekommt, sei es Süßkram oder Herzhaftes. Wir männlichen Praktikanten probieren gerade alle möglichen Trockenfrüchte aus, die Auswahl ist hier nämlich weitaus größer als ich es von daheim kenne (und natürlich viel billiger). Getrocknete Papayas, Kiwis und Melonen sind unsere neuesten Entdeckungen, von getrockneten Zitronen rate ich mal lieber ab, hab selten etwas so Widerwärtiges gegessen. Apropos widerwärtig: Letztens gabʼs als Snack „imli“ (siehe Bild). Das sind Hülsenfrüchte vom Tamarindenbaum. Ich weiß gar nicht, wie die zubereitet oder eingelegt waren, es ist jedenfalls eine klebrige, sehnige Masse mit diesen riesigen roten Kernen darin und vom Geschmack her so ein bisschen, als würde man Essig im festen, schleimüberzogenen Zustand zu sich nehmen. Die Mädchen lachen, als ich das Gesicht verziehe. „All girls like it, all boys hate it“, erklärt mir Swastika. Der Würgkram sei wohl auch während der Schwangerschaft sehr gesund.
Ab und zu kommt auch ein Straßenhändler vorbei und bringt Unmengen von diesen kleinen Beeren, „kafal“ heißen sie. Kann sie geschmacklich gar nicht beschreiben, eher säuerlich als süß und haben einen relativ großen Kern. Ein paar der Kids essen ihn mit, mir ist er zu sauer. Das Fruchtfleisch hingegen schmeckt gut, allerdings haben die Nepalesen eine sehr seltsame Angewohnheit und streuen Unmengen von Salz drauf. „It makes the taste better“, behauptet Norden. No, it makes the taste absolutely shitty, will ich entgegenhalten und wasche das Salz ab. Muss ja schließlich nicht jede einheimische (Un-)Sitte übernehmen.
Heute möchte ich auch ein paar Worte zu drei Damen loswerden, die ich bislang quasi unerwähnt gelassen hab: Die दीदी, die „didis“ (= „große Schwester“), die Hausangestellten. Eine arbeitet
in der Küche (sie ist die Mutter von Sunil und Swastika, allerdings nicht von der oben erwähnten, sondern einer jüngeren, die den Tag in Gangabu verbringt), zwei andere machen sauber und waschen
Wäsche (eine davon ist die Mutter von Ramesh und Umesh, die andere ihre Schwägerin). Ich möchte nur mal, dass sich alle deutschen Arbeitnehmer den Alltag dieser Damen vorstellen: Wenn ich morgens
aus dem Bett krieche, bereitet die Küchen-„didi“ bereits warme Milch zu. Ich weiß gar nicht genau, wann sie kommt – vielleicht mit Sunil und Swastika, ich nehme mal an zwischen fünf und halb
sechs. Dann wird heiße Zitrone für die Praktikanten vorbereitet, die mit den Kids lernen, parallel das Frühstück zubereitet. Anschließend muss abgewaschen werden, dann wird das Haus durchgeputzt
– täglich wird hier alles entstaubt und durchgewischt, auch der Hof draußen. Tiffin, die kleine Mahlzeit zum Mittag, muss ebenfalls vorbereitet werden. Dann wird weitergeputzt oder -gewaschen
(zwischendurch gibt es eine weitere heiße Zitrone), ehe es ans Abendessen geht. Ich schätze den Arbeitstag auf etwa 14 bis 16 Stunden. Und zwar sieben Tage die Woche. Ohne Urlaub. Was ich so
höre, hat die Mutter von Ramesh und Umesh wohl auch mal ihre Zickentage, aber besonders die Küchen-„didi“ hat immer ein Lächeln auf den Lippen und ist äußerst zuvorkommend und
freundlich. Respekt. Ich krieg im Büro freitagnachmittags immer die regelrechte Krise, weil ich endlich ins Wochenende will …
Die Ferien neigen sich dem Ende zu, am Donnerstag (16.4.) geht die Schule wieder los. Die verbleibende Freizeit wird ausgenutzt für ein paar neue DVDs, die wir gesponsert haben (und damit die endlich aufhören, diese nervigen nepalesischen Seifenopern zu schauen), aber auch mit viel Sport. Aus unerfindlichen Gründen ist es uns sogar gelungen, auf dem Bolzplatz die Jungs und Mädels zu mischen – was nicht einfach war, denn die Mädchen machen beim Sport nie mit und die Jungs wollen das auch gar nicht. Prabha, Pasang und Puja schauen heute interessiert beim Basketball zu und werfen sogar ein paar Körbe. Indra, Dinesh, Ramesh und ich werfen Körbe um die Wette: Wer mehr Körbe am Stück schafft, gewinnt. Ramesh gewinnt das erste Match gegen mich mit relativ souveränen 62 zu 1. :D (Ich würd ja gern sagen, das ist besser als nichts, aber es ist trotzdem eine traurige Bilanz.) Da mir Basketball einfach nicht liegt, hat er irgendwann Nachsehen und sagt, dass ich meine Körbe addieren darf, während er, wenn er danebenwirft, von vorne anfangen muss zu zählen. So verliere ich das nächste Match nur mit 46 zu 11. Bin ich vielleicht ein Champ.
Volleyball ist schon eher mein Element. Es macht mir aber mit den Kids hier besonders viel Spaß, weil wir echt erstklassige Spielzüge bewerkstelligen. Klar geht auch mal eine Angabe ins Netz oder der Ballwechsel ist schnell zu Ende, meistens aber sind die Ballwechsel richtig gut und spannend, und beide Seiten sind stark darauf bedacht, alle drei erlaubten Ball-Berührungen auszunutzen. Mit Sujan und Sachin bilde ich am Netz ein regelrechtes Dreamteam, während Sanjeev hinten in der Abwehr kaum einen Ball verfehlt. Auch hier trauen sich die Mädels heute mal: Auf unserer Seite spielt Samjhana mit, im anderen Team Swastika. Letztere ist besser als viele Jungs – am Netz hält sie sich zurück, aber in der Abwehr fängt sie jeden Ball ab. Wir spielen sechs oder sieben Sätze, ehe wir mit einem Bedauern zum Mittag „müssen“.
Außerdem nutzen wir die Freizeit noch für etwas anderes: Denn Ende Mai kommt Ellen ja mit einer Reisegruppe zu Besuch und die Kids sollen ein besonderes Programm einstudieren, das von den Praktikanten mitorganisiert wird. Unten in Gangabu tüfteln sie fleißig an der Theaterfassung von „König der Löwen 2“ und einigen akrobatischen Einlagen. Dafür üben wir hier oben auch gerade ein Lied ein, „Can you feel the love tonight“, zwar aus dem ersten Teil, aber es ist halt schön. Ashok und Malika wollen es singen, Ramesh begleitet auf der Gitarre. „Love is spoken here“ werden wir sicher auch noch mal vorsingen, und auch ein Teil der Großen spielt Theater: Disneys „Die Schöne und das Biest“ soll es sein. Damit das Programm nicht zu überladen sind, haben Pia und ich die Geschichte drastisch gekürzt. Die Rollen sind genau auf die Zahl der Mitwirkenden zugeschnitten, aber natürlich entbrennt trotzdem ein heißer Kampf und die begehrte Rolle von Belle. Schließlich besetzen wir sowohl Belle als auch das Biest doppelt. Zwei Mädels spielen das Biest. Das ist interessanterweise kein so großes Problem – dass Dinesh, der Gaston verkörpert, jedoch sagen soll: „I am the most beautiful man in town!“, da stoßen wir auf Granit. „Girls are beautiful, men are handsome“, beharrt er und ändert rigoros alle entsprechenden Stellen. Nun ja, wo er recht hat … ;) Und – ich konnte es einfach nicht lassen – ich habe den Kids fürs das Programm zwei der EFY/FSY-Linedances beigebracht. Da sie wöchentlich Tanzunterricht bekommen, lernen die meisten die Schritte ziemlich flott, aber die Musik ist natürlich eine ganz andere als das, was sie gewöhnt sind. Leider hat bei den Videoaufnahmen der Ton nicht funktioniert, aber die Begeisterung ist doch einigen anzusehen – allen voran Benny Uncle. :)
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Cordel (Donnerstag, 16 April 2015 19:52)
Die Videos sind echt witzig und beweisen, dass mein Bruder ein echt gutes Körpergefühl hat. Normalerweise zeichnet ein gutes Körpergefühl auch einen guten Ballsportler aus, insofern muss die Frage erlaubt sein: 62:1??? Du verlierst 62:1 beim Basketball? Ich nehme das erschüttert zur Kenntnis und werde veranlassen, dass bei deiner Rückkehr in deinem Hausflur ein Basketballkorb hängt, so dass die jeden Tag üben kannst!!!
Nein, im Ernst Bruderherz, du gehörst jetzt gerade nirgendwo anders hin, als nach Nepal. Für alles gibt es eine Zeit - deine dort ist eindeutig jetzt und absolut richtig!!! Ich hab dich lieb
Cordel (Donnerstag, 16 April 2015 19:54)
Hmm, doppelt hält besser...meine Finger waren zu schnell