„Benny Uncle, Benny Uncle, Benny Uncle!“

Das liebevolle Miteinander, das hier herrscht, haut mich nach wie vor um. Ich habe von frühester Kindheit gelernt, wie wichtig Einigkeit und Harmonie sind – und natürlich habe ich dies auch in der Familie und im Freundeskreis erlebt. Trotzdem fühle ich mich etwas schäbig, wie „anstrengend“ das Konzept für mich sein kann, wenn mir hier Einigkeit in ihrer reinsten Form als etwas völlig Selbstverständliches vorgelebt wird. Wieso? Weil diese Mädchen und Jungen nichts haben außer einander. Und so dankbar füreinander sind, dass ein anderes Verhalten für sie außer Frage steht.


Ein weiteres Konzept, was gerade auch in der Kirche im Vordergrund steht (zumindest stehen sollte), ist der Einzelne. Wie oft habe ich schon gehört, dass wir uns um den Einzelnen kümmern sollen. Ich merke hier, wie sehr mir dieses Konzept zu schaffen macht. In Gangabu befinden sich 45 Kids, in Dhapasi 33. Wie ich schon geschrieben habe, kümmern sie sich sehr liebevoll umeinander. Es gibt keine Außenseiter. Es gibt nicht einmal etwas Cliquenartiges (halt nur, dass Mädchen und Jungen sich eher nicht mischen). Jeder spielt mit jedem. Aber wir Praktikanten haben durchaus einen spürbaren Stellenwert hier. Die Kinder wollen unsere Aufmerksamkeit. Und zwar jeder Einzelne. Bei manchen Aktivitäten ist das in der Gruppe möglich, aber nicht immer. Wie soll man da bei der begrenzten Zeit, die ein Tag bietet, entscheiden, wem man sich zuwendet? Von einem „Er oder sie braucht mich mehr als jemand anders“ kann in diesem Setting nämlich kaum die Rede sein. Und wenn vier gleichzeitig anstürmen und ich von jeder Seite höre „Benny Uncle, Benny Uncle, Benny Uncle!“ und einer Fangen spielen will, der Zweite Verstecken, der Dritte Badminton, der Vierte ein Buch lesen will … Was soll ich tun? Jedem ein paar Minuten gönnen und dann zum Nächsten wetzen? Die anderen auf „morgen“ vertrösten? Ich schreibe nicht darüber, weil ich eine Antwort gefunden habe, sondern weil ich nicht weiß, ob es überhaupt eine darauf gibt. Aber es zehrt sehr an mir, weil ich mich eingeschränkt fühle in einem Bereich, über den ich keine Macht habe. Und irgendwie nach Gefühl vorgehen muss und nicht weiß, wann und ob ich richtig liege. Ich habe wirklich neuen Respekt vor Müttern von vielen Kindern … und noch viel zu lernen.

Ich möchte euch heute Sujan vorstellen (er hält auf dem Foto den Ball fest). Im Gegensatz zu den Übrigen ist seine Geschichte nicht ganz so schlimm, was ja zur Abwechslung auch mal gut zu hören ist. Seine Mutter, alleinerziehend, arbeitete früher an der Straße und klopfte Steine klein, die dann zur Weiterverarbeitung abgekauft wurden. Sujan war zwei Jahre alt, als damalige Betreuer des Projekts ihn entdeckten. Die Mutter gab ihn gern ab – und zwar in diesem Fall nicht, weil sie ihn nicht liebte, sondern eben weil sie ihn liebte und sich bewusst war, dass sie ihm keine Zukunft ermöglichen konnte. Sujans Familie kommt aus einer der am niedrigsten angesehenen Kasten des Landes, daher haben selbst die einheimischen Betreuer des Projekts sich gar nicht so viel davon versprochen, ihn aufzunehmen, denn niedrige Kaste wird in diesem Land von höheren Kasten mit niedriger Intelligenz gleichgesetzt. Und das wird leider auch so vermittelt. Nach anfänglichen Schwierigkeiten hat sich Sujan fabelhaft gemacht. Inzwischen ist er 16 und ein sehr reifer, selbstbewusster junger Mann geworden. Sein Bruder ist ebenfalls in der Einrichtung (halt unten in Gangabu), aber wo er kann, kümmert er sich rührend um ihn. Kontakt zur Mutter besteht ebenfalls. Leo bringt ihm Schlagzeug bei, mich verdonnert er zum Basketball, was ja eigentlich zu meinen Hass-Sportarten gehört, also sage ich ihm: „Iʼm bad at it, so you have to teach me!“ Gesagt, getan. Zuerst Einzelunterricht, dann frage ich ihn, ob wir nicht irgendwie einen Basketballkorb improvisieren können. Sujan führt mich hinters Haus. Er hat tatsächlich mal einen gebaut, und zwar hat er den Ring aus einem Autoreifen geschnitten und dann an einem Holzpfeiler befestigt, der aber inzwischen durchgebrochen ist. Ich sage ihm, dass wir jetzt einen neuen bauen, damit wir anständig spielen können. Wir suchen Holz zusammen und beginnen damit, allerdings werd ich dann abberufen und muss runter nach Gangabu, um aushelfen. „Keep working, Iʼll be back in a few hours!“ Ich bin zuversichtlich, dass wir das in den nächsten Tagen gut packen. (Bevor ich das Grundstück verlasse, rufen Dinesh und Himal mir zu: „See you later, Benny Bro!“ So nennen mich jetzt die Älteren. Bin gespannt, was noch an Namen kommt. :D) Als ich drei Stunden später wiederkomme, ist der Korb fertig. Und sieht einfach genial aus. Sujan und Umesh grinsen mich stolz an. Mir kommen fast die Tränen, weil ich es unfair finde, wie jedes zweite Grundstück in Amerika einen Basketballkorb am Garagentor integriert hat, und sich die Jungs hier buchstäblich aus Müll was zusammenbasteln müssen. Aber das steigert für mich den Wert ins Unermessliche. Und so werfe ich meinen Basketball-Hass endgültig über Bord und spiele eine Stunde, ehe ich notgedrungen eine Pause machen muss, weil ich triefe und außer Atem bin. Ich habe wahnsinnig viel Spaß. Und: Ich spiele einfach nur scheiße. Bekomm kaum einen Pass. Werfe ständig daneben. Meine Hände sind langsam und ich habe kein gutes Gefühl für den Ball. Aber Sujan und Ramesh, mit denen ich ein Team bilde, klopfen mir unentwegt auf die Schulter: „Good pass, brother!“ „Youʼre good, brother!“ „Awesome, brother!“ Wenn ich an Gemeinde-Fußball in meiner Kindheit zurückdenke und wie mir das Herumgebrülle, weil jemand mal einen Schuss vergeigt hat, den letzten Spielspaß geraubt hat … Noch unklar, was Einigkeit und Harmonie bedeuten?


Anbei noch ein paar Fotos vom Dhapasi-Haus. Ich hatte mir noch drei weitere Themen vorgemerkt, über die ich schreiben wollte, unter anderem mein erster Besuch in der Kirche. Aber dazu ein andernmal. :)

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Kommentare: 4
  • #1

    Mama und Papa (Samstag, 28 März 2015 17:07)

    Hi benny, das klingt ja alles toll und faszinierend. Bei Gabi haben wir alles Andere aus deinem Blog gelesen, da wir ja Montag zum Tempel runtergefahren sind. Schön, dass du diese Erfahrungen machen kannst, auch wenn es nicht leicht ist. Um dich dem einen zuzuwenden, musst du dich einfach auf den Geist verlassen, eine andere Chance hast du nicht. Aber danke, dass wir deine Erlebnnisse auf diese Weise ein wenig miterleben können. Du selbst wirst in diesen Monaten noch sehr viel lernen.
    Wir haben dich lieb. Deine Mama und dein Papa.

  • #2

    Julia Fischer (Samstag, 28 März 2015 19:51)

    Da bekommt man ja echt voll Lust, auch mal sowas zu machen :)

  • #3

    Brusten (Sonntag, 29 März 2015 14:23)

    Toll!! Spricht mir aus der Seele!
    Markus 5:21-42 beeindruckt mich zutiefst und zeigt sehr schön, wie Christus sich auch in Situationen, in denen es um Leben und Tod ging, Zeit für den Einzelnen genommen hat ... wie er auf sein Gefühl gehört hat, um zu erkennen, wer gerade seine volle Aufmerksamkeit brauchte, und sich dann nicht von anderen Menschen hat beirren lassen. Dass er am Ende die Tochter von Jairus von den Toten auferwecken konnte, als er doch zu spät kam, ist natürlich ein extremes Beispiel für ein Happy End; es zeigt aber doch, dass man nicht an mehreren Orten gleichzeitig sein muss, um "die Welt zu retten", und am Ende trotzdem alles gut wird, wenn man sich einem einzelnen Menschen zuwendet.
    Deine Eindrücke zeigen mir aber auch mal wieder, dass jeder Einzelne sich viel mehr im Dienst am Nächsten engagieren muss, da es einfach so viele Menschen gibt, die Hilfe und Aufmerksamkeit brauchen. Ein Aufruf auch an mich ...

    Danke!

  • #4

    Mj (Dienstag, 31 März 2015 10:47)

    Sehr inspirierend! Es wird nicht langweilig :) Danke Benny!
    Cohooool!