Ich bin verliebt

Die Luft ist so verdreckt, dass meine Nase abends komplett dicht ist. Inzwischen schmecke ich den Staub sogar schon. Es gibt morgens kein warmes Wasser, also dusche ich kalt, außerdem ist das Licht im Bad kaputt, was es noch spannender macht. Der Abfluss vom Waschbecken leckt, und der Fußboden im Bad ist konstant nass (was sowieso völlig normal ist – die Nepalesen lieben nasse Bäder. Es ist fast wie in einem Hamam. Und weil sie kein Toilettenpapier benutzen, sondern sich den Hintern mit der Dusche abspülen, ist auch die Klobrille immer nass. Daher sollen wir unser Toilettenpapier nie im Bad liegenlassen, weil es sonst beim nächsten Besuch komplett durchweicht ist). Viel nützt die Dusche gar nicht, denn nach dem Fußmarsch runter nach Gangabu sind meine Füße und Unterschenkel wieder komplett verstaubt. Sie sind übersät von Mückenstichen (oder Flohbissen, wer weiß das schon), weil ich vergessen hab, das Mückenspray aufzutragen, das MJ und Ina mir geschenkt haben. (Allerdings juckt es nicht, weil ich das Anti-Juck-Gel aufgetragen habe, das MJ und Ina mir geschenkt haben.) Meine Hände sind den ganzen Tag lang klebrig, obwohl ich sie mir ständig wasche. Der Staub bewirkt, dass mir die Augen (trotz Kontaktlinsen) brennen. Durch die Stadt zu laufen bedeutet, sich die Straße mit Autos und Motorrädern teilen zu müssen, die auch durch die engen Straßen brettern. Die Regenzeit ist noch nicht angebrochen, aber jeden Nachmittag gießt und gewittert und hagelt es etwa zwei Stunden lang heftig. Das erfrischt zwar die Luft, verschlammt die Straßen jedoch noch mehr. Als Nachmittagssnack gabʼs neulich etwas, was wie Fingernägel aussah. Und die Konsistenz von Fingernägeln hatte. Der Smog dringt durch die undichten Fenster und Wände ins Haus, und wenn wir nicht täglich ausfegen, bildet sich schnell eine Staubschicht auf allem.


Und: Ich liebe es hier, und es gibt keinen anderen Ort auf der Welt, wo ich gerade lieber sein möchte. Und ich bin vielleicht schon sowas von verliebt in die Kids.


Kathmandu hat unglaubliches Flair. Ich sauge alles, was ich sehe, in mich auf. Überall versteckt sind kleine und große Tempel. An jeder Ecke hängen Räucherstäbchen, die die staubige Luft mit einem irgendwie interessanten Aroma versehen. Menschenmassen ohne Ende, und zwar zu jeder Tageszeit und überall. In Thamel sieht man zwar durchaus auch einige Touristen, aber auch die Viertel, wo nur die Einheimischen einkaufen gehen, sind voll. Bei den Schlachtern liegen die Fleischstücke offen auf dem Tisch und werden von vielen Fliegen umsummt. Hier und da ein Schweinekopf. Oder ein halber. Kein Stand, kein Shop gleicht dem anderen. Die Papayas sind ungefähr fünf Mal so groß wie in Deutschland und ungefähr fünf Mal so billig. 

Louisa (die zwei Tage bei einer Freundin war, aber schon fast so lange wie Nadine hier ist), Nadine und ich schlürfen ein Lassi für jeweils umgerechnet 30 Cent. Der Joghurtdrink wird mit Nüssen, Rosinen und einer süßlichen, gehobelten Masse (vielleicht was aus Mandeln, schmeckt leicht marzipanig) bestreut. „Das beste Lassi in der Stadt“, verspricht Louisa. Hab noch keinen Vergleich, bin aber dermaßen im Himmel, dass wir drei uns jeder noch zwei weitere Gläser gönnen.

 

Die Menschenmassen, die zu scheinbar jeder Tageszeit überall in der Stadt sind, faszinieren mich. Überall wird einem nett zugelächelt. Straßenverkäufer freuen sich von Herzen, wenn man sich auf ein Gespräch mit ihnen einlässt, sind aber höflich und in keiner Weise nervig-penetrant (sorry, Türkei).

Ein paar der Kleinen haben mich inzwischen „Ben 10“ getauft. Anfangs denke ich, sie finden den Reim der beiden Wörter einfach witzig, auch wenn ich nicht verstehe, weshalb sie mir ihren Unterarm entgegenstrecken und mich mit einer unsichtbaren Uhr abschießen. Inzwischen weiß ich, dass es sich um eine Fernsehserie handelt über einen zehnjährigen Jungen namens Ben, der sich mithilfe eines armbanduhrähnlichen Geräts in irgendwelche Aliens transformieren kann. Und ich dachte, übers Fernsehen wüsste ich alles. Apropos: Es gibt in beiden Häusern Fernseher, und es gehört sogar fast täglich zum Programm, dass die Kids glotzen dürfen. Davon ist wohl keine Kultur ausgenommen. Und wie in jeder Kultur wird augenblicklich alles andere vergessen, auch wenn man ins Spiel vertieft ist, und der Blick wird starr auf die Mattscheibe gerichtet. Allerdings können sie sich auch wunderbar mit Spielen beschäftigen, insofern halte ich das alles in meiner pseudo-pädagogischen Natur für wenig bedenklich. Soll man ihnen doch auch ein bisschen von dem westlichen Luxus gönnen. Im Übrigen muss ich mal hervorheben, wie hervorragend der soziale Umgang der Kinder miteinander ist. Tut sich einer weh, scharen sich ein Dutzend um ihn und versuchen zu helfen. Streit gibt es so gut wie gar nicht. Wenn ich an meine Arbeit in der Kinderkrippe vor ein paar Jahren denke und welcher Zoff da teilweise unter gerade mal zwölf Kindern herrschte, wenn zwei dasselbe Spielzeug wollten … Klar gibt es hier auch mal eine Unstimmigkeit, aber es endet nie in Tränen und man arrangiert sich schnell. Sie spielen auch fantastisch miteinander. Sie sind einfach eine große Familie. Und man bedenke, allein in Gangabu sind 45. Der Lautstärkepegel hatʼs also in sich, aber momentan gibt es für mich keinen schöneren Lärm. :) Und: Wenn sie sich in Reih und Glied aufstellen, bevor sie in die Schule oder zum Essen marschieren, herrscht eiserne Disziplin (außer bei den beiden ganz Kleinen, die laufen da gern noch herum).


Die Arbeit mit den Großen und Kleinen fällt unterschiedlich aus. Klavierunterricht haben Leo und ich ja gestern angefangen, Leo spielt aber auch Gitarre und Schlagzeug, was ebenfalls für Begeisterung sorgt. Wir haben die Hoffnung, am Ende unserer Zeit eine eigene Band zu haben. :) Das Spielen an sich ist etwas ruhiger, wenngleich sowohl Kartenspiele als auch Sport drin ist. Die Jungs sind unglaublich gut mit Bällen. Beim Badminton dachte ich: „Joa, ich halt mich mal zurück, damit der Lütte nicht frustiert ist.“ Und hab deutlich mehr daneben gehauen als er.

 

Bei den Kleinen wird viel getobt und Fangen und Verstecken gespielt (die Jagd ist immer besonders schön, wennʼs hinterʼs Haus geht und man über die Pissrinne balancieren darf). Aber ich habe auch schon einfach draußen in der Sonne gesessen und war komplett umringt von sechs oder sieben, die völlig fasziniert an meinen behaarten Armen und Beinen gezupft haben. Auch die Glatze ist nach wie vor die pure Faszination. Heute sollte ich meine Oberarme anspannen, weil sie wissen wollten, wie stark ich bin. So wurde aus „Ben 10 Uncle“ spontan „Strong Body Uncle“. Was die Kleinen ebenfalls lieben, ist Theater. Mit allen zusammen geht das natürlich nicht, also wechseln sich meist die Klassenstufen ab. Sie suchen sich ein Buch aus und dann wird die Geschichte nachgespielt, natürlich mit entsprechender Rollenverteilung. Das wird dann allen stolz auf dem Hof vorgeführt. Heute war die Geschichte besonders brutal. Bei einer Krähenfamilie kommt eine Schlange und frisst erst das eine, dann das zweite Junge, als die Eltern gerade Essen holen. Sie konsultieren den Fuchs, der ihnen vorschlägt, von der Königin, die gerade in der Nähe in einem Teich badet, die Kette zu stehlen. Sie werfen die Kette vor der Schlangenhöhle ab und rufen die Wachen der Königin. Diese denken, die Schlange habe die Kette gestohlen, und spießen sie auf. Somit haben die Kräheneltern zumindest mit dem dritten Krähenbaby ein Happy-End. Was die Moral sein soll, ist fraglich, aber irgendwie sind hier lauter Bücher, die etwas seltsam-blutige Geschichten beinhalten. Ich beschwer mich natürlich nicht darüber, denn in der 5. und 6. Klasse habe ich schließlich nichts anderes zu Papier gebracht. :)


Aber so schön die ganze Arbeit ist und so sehr sowohl die Kleinen als auch die Großen strahlen und vergnügt sind, das Ganze hat trotzdem seine Schattenseiten. Denn was man nicht vergessen darf: Es gibt Gründe, weshalb die Kinder hier sind. Ich habe heute Vormittag sehr viel Zeit mit Sujol verbracht. Er ist unten auf dem Foto mit der Jungsreihe ganz vorne. Er ist etwa 8, total intelligent, spricht besser Englisch als viele, die älter sind als er. Körperlich ist er ein Winzling und sehr dürr. Er ist sehr anhänglich und saugt die Aufmerksamkeit in sich auf. Sujols Mutter ist vor ein paar Jahren gestorben. Sein Vater hat neu geheiratet und, wie es in dieser Kultur leider öfter vorkommt, hat die neue Frau das Kind aus erster Ehe nicht angenommen und den armen Sujol völlig vernachlässigt und schlimm behandelt. Es klingt nach einer wahren „Aschenputtel“-Story. Nur dass in diesem Fall keine magische Verwandlung zum Prinz stattgefunden hat, sondern der Kleine ins Waisenhaus abgeschoben wurde. Es geht ihm hier natürlich tausendmal besser, aber es bricht einem das Herz, das ein solch drastischer Schritt notwendig ist, damit er ein Chance auf eine gute Zukunft hat. Es wäre schön, wenn das ein Einzelfall wäre, aber sowas gibt es hier nicht. Jedes Kind bring eine ähnliche traurige, teilweise grausame Geschichte mit sich. Ein Grund mehr, jeden kostbaren Augenblick mit ihnen auszukosten und ihnen das Gefühl zu geben, das zu sein, was sie sind – nämlich unglaublich kostbare und geliebte Geschöpfe.


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Kommentare: 6
  • #1

    Tiny (Samstag, 28 März 2015 01:07)

    Danke Strong Body Uncle für deine Eindrücke und Erlebnisse. Es liest sich so toll, das man sich glatt so fühlt als wäre man dabei gewesen.
    :-*

  • #2

    Brusten (Samstag, 28 März 2015 15:36)

    Voll rührend, das alles, vor allem die "Schattenseiten" natürlich echt sch.... So was dürfte gar nicht sein! Gut, dass du da bist. Mit deiner lustigen, liebevollen, kreativen Art bist du genau der Richtige für den Job!!! Ich wünsche dir alles Gute und den Segen des Herrn und dass du in den Kleinen tatsächlich Hoffnung und vor allem Liebe pflanzen kannst!!!

  • #3

    Brusten (Samstag, 28 März 2015 15:43)

    Ach ja: Danke für die Fotos. Sie sehen aus wie aus einer Zeitschrift!
    Als Belgier kennt man so was natürlich gar nicht, darüber sind sich auch meine Kollegen im Carrefour einig.

  • #4

    Mama und Papa (Samstag, 28 März 2015 18:17)

    Die sanitären Einrichtungen sind halt kein Weststandard. Aber da du den Ort liebgewonnen hast, wirst du sicherlich mit allen Widrigkeiten fertig. Am wichtigsten sind die Kinder und da kannst du ihnen immer wieder mit Liebe begegnen. Weiterhin viel Freude und wir hoffen auf weitere Informationen.

  • #5

    Lorena (Montag, 30 März 2015 09:22)

    Ben, danke dass du diese Eindrücke mit uns teilst. Du beschreibt alles wunderbar.Hochachtung vor deinem Einsatz. Bleib uns ja gesund!

  • #6

    Mj (Dienstag, 31 März 2015 10:59)

    3 küsse und Umarmungen von Mj aus Deutschland für Sujol jeden Tag bitte, Benny, ja?! Danke :)
    Tolle Bilder!
    Ich krieg richtig Fernweh von deinen Geschichten!
    Ich drück dich!